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Daniela Dröscher erzählt vom Aufwachsen in einer Familie, in der ein Thema alles beherrscht: das Körpergewicht der Mutter. Ist diese schöne, eigenwillige, unberechenbare Frau zu dick? Muss sie dringend abnehmen? Ja, das muss sie. Entscheidet ihr Ehemann. Und die Mutter ist dem ausgesetzt, Tag für Tag.
»Lügen über meine Mutter« ist zweierlei zugleich: die Erzählung einer Kindheit im Hunsrück der 1980er, die immer stärker beherrscht wird von der fixen Idee des Vaters, das Übergewicht seiner Frau wäre verantwortlich für alles, was ihm versagt bleibt: die Beförderung, der soziale Aufstieg, die
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Produktbeschreibung
Daniela Dröscher erzählt vom Aufwachsen in einer Familie, in der ein Thema alles beherrscht: das Körpergewicht der Mutter. Ist diese schöne, eigenwillige, unberechenbare Frau zu dick? Muss sie dringend abnehmen? Ja, das muss sie. Entscheidet ihr Ehemann. Und die Mutter ist dem ausgesetzt, Tag für Tag.

»Lügen über meine Mutter« ist zweierlei zugleich: die Erzählung einer Kindheit im Hunsrück der 1980er, die immer stärker beherrscht wird von der fixen Idee des Vaters, das Übergewicht seiner Frau wäre verantwortlich für alles, was ihm versagt bleibt: die Beförderung, der soziale Aufstieg, die Anerkennung in der Dorfgemeinschaft. Und es ist eine Befragung des Geschehens aus der heutigen Perspektive: Was ist damals wirklich passiert? Was wurde verheimlicht, worüber wurde gelogen? Und was sagt uns das alles über den größeren Zusammenhang: die Gesellschaft, die ständig auf uns einwirkt, ob wir wollen oder nicht?

Schonungslos und eindrücklich lässt Daniela Dröscher ihrkindliches Alter Ego die Jahre, in denen sich dieses »Kammerspiel namens Familie« abspielte, noch einmal durchleben. Ihr gelingt ein ebenso berührender wie kluger Roman über subtile Gewalt, aber auch über Verantwortung und Fürsorge. Vor allem aber ist dies ein tragik-komisches Buch über eine starke Frau, die nicht aufhört, für die Selbstbestimmung über ihr Leben zu kämpfen.
Autorenporträt
Daniela Dröscher, Jahrgang 1977, aufgewachsen in Rheinland-Pfalz, lebt in Berlin. Sie schreibt Prosa, Essays und Theatertexte. Studium der Germanistik, Philosophie und Anglistik in Trier und London, Promotion im Fach Medienwissenschaft an der Universität Potsdam sowie ein Diplom in 'Szenischem Schreiben' an der Universität Graz. Ihr Romandebüt 'Die Lichter des George Psalmanazar' erschien 2009 im Berlin Verlag, es folgten der Erzählband 'Gloria' und der Roman 'Pola' sowie das Memoir 'Zeige deine Klasse. Die Geschichte meiner sozialen Herkunft' bei Hoffmann & Campe. Sie wurde u.a. mit dem Anna-Seghers-Preis, dem Arbeitsstipendium des Deutschen Literaturfonds sowie dem Robert-Gernhardt-Preis (2017) ausgezeichnet. 
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Selten loben Rezensenten Romane für ihre große Seitenzahl. Rezensentin Judith von Sternburg tut dies. Ausgangssituation und Handlung ließen sich zwar auch in wenigen Worten beschreiben, doch Daniela Dröschers "Lügen meiner Mutter" braucht dennoch "dringend" jede seiner 444 Seiten, um auf die ihm eigene originelle und packende Weise von Elas Problem zu erzählen, so die Rezensentin. Ela ist ein Kind, als die Geschichte einsetzt, und sie hat ein Problem. Dass ihre dicke Mutter ihr Problem ist, glaubt sie, weil ihr Vater das glaubt: Der meint seine Frau halte ihn davon ab, jener unscheinbare Durchschnitts-BRD-Bürger zu sein, der zu sein er anstrebt. Doch die Übergewichtigkeit von Elas Mutter, das begreifen sowohl Ela als auch die Lesenden Seite für Seite, ist tatsächlich kein Problem, sondern ein Symbol. Der Vater ist das Problem, erfahren wir. Gespannt und mitfühlend liest man, wie Elas Vater seine Frau immer wieder triezt, sie zum Abnehmen drängt und wie Ela seine Scham übernimmt. Entbehrlich scheinen zunächst die  Einschübe, in denen die Autorin ihren Leserinnen und Lesern direkt und nüchtern erklärt, was man auch ohne dies verstehen würde. Allerdings, so geht der Kritikerin schließlich auf, sind diese Einschübe auch eine Möglichkeit, die Mutter aus einer anderen Perspektive, nicht nur der der Tochter zu zeigen.

© Perlentaucher Medien GmbH…mehr

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.08.2022

„Sie ist zu dick“
Der weibliche Zweig der Herkunftsliteratur:
Einmal mehr erzählt Daniela Dröscher
von Klassenscham und dem Unglück einer Ehe.
Wer die Achtzigerjahre erlebt hat,
wird manches wiedererkennen
VON JOHANNA ADORJÁN
Sie habe Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ atemlos und mit heißen Ohren gelesen, hat die deutsche Schriftstellerin Daniela Dröscher bekannt. Die Lektüre des französischen Soziologen, der in diesem Buch über die Arbeiterklasse nachdenkt, der er entstammt, schenkte ihr die Erkenntnis, dass die Scham, die sie immer für ihre Eltern, ihre kleinbürgerliche Herkunft empfunden hatte, keine individuelle war, sondern ihrem Milieu immanent ist. Sie hat seither ein Memoir veröffentlicht, das sich mit ihrer eigenen sozialen Herkunft befasste: „Zeige deine Klasse“ (Hoffmann und Campe, 2020). Jetzt erscheint ihr neues Buch, das auch davon erzählt. Diesmal ist es ein Roman – mit dem Knallertitel „Lügen über meine Mutter“.
Die Lektüre ist schon deshalb aufregend, weil in Deutschland lange niemand über Klassenzugehörigkeit schrieb. Es war keine Kategorie, die in der Literatur mitgedacht wurde, was natürlich auch daran liegt, dass das Milieu, in dem man sich für einen schreibenden Beruf entscheidet, eines ist, in dem man es sich üblicherweise leisten kann, nicht über sozialen Status nachzudenken, schon gar nicht den eigenen. Doch allmählich scheint dieses Thema von Frankreich aus zu uns zu kommen. Dort hat Annie Ernaux es angestoßen, die wiederum den Soziologen Didier Eribon beeinflusste, dem wiederum Édouard Louis dicht nachfolgt. Sie alle verehren den Soziologen Pierre Bourdieu. Man hat für ihre Literatur, die die eigene Herkunft ergründet und überhaupt die ganze Welt durch die Brille der Klassenzugehörigkeit sieht, einen eigenen Genre-Begriff erfunden, von dem nun auch hierzulande immer öfter die Rede ist: Autosoziobiografie.
Hier schreibt Christian Baron über seine Kindheit und Jugend, umgeben von Männern des Prekariats. Anke Stelling erzählt von den unsichtbaren Grenzen, die unterschiedliches Kapital in Freundschaften ziehen. Hendrik Bolz, der als Rapper Testo heißt, dichtet die brutale Geschichte seiner eigenen Sozialisierung in „Nullerjahre“ nach. Ein Roman wie Christian Krachts „Faserland“ würde heute wohl kaum noch ohne einen Klappentext erscheinen, der die sozial gehobene Schicht des finanziell sorglos im Land herumvagabundierenden Ich-Erzählers thematisiert. Zumindest in Rezensionen des Buches würde sie benannt werden. Zu den gängigen Identitätskategorien race und gender hat sich die der Klasse gesellt.
Daniela Dröschers „Lügen über meine Mutter“ spielt 1983 bis 1986 im 500-Einwohner-Dorf Obach im Hunsrück. Man spricht dort in etwa den Dialekt, den man von Helmut Kohl kennt, damals für immer Kanzler. Die Ich-Erzählerin, zu verwechseln mit Daniela Dröscher, ist zu Beginn sechs Jahre alt und Einzelkind. Im Laufe des Buchs wird sie noch eine Schwester bekommen. Es wird sich auch eine alzheimerkranke Großmutter zum Haushalt dazugesellen sowie ein entfernt verwandtes Pflegekind.
Der Vater hat einen Schreibtischberuf, der mit Maschinenbau zu tun hat, und wird in seiner Firma nie befördert. Die Mutter arbeitet als Fremdsprachenkorrespondentin, auch wenn dem Vater lieber wäre, sie wäre nicht berufstätig. Sie ist Schlesien-Deutsche und als solche des dörflichen Dialekts nicht mächtig. Für ihr Hochdeutsch schämt sich ihre Tochter fast genauso wie für ihren ausufernden Körper: Die Mutter ist dick. Das ist das zentrale Motiv des Buchs, das von der Scham der Tochter handelt, und der Schande, die diese Körperfülle aus Sicht des Vaters über die Familie bringt.
Ihr Gewicht ist nicht durchschnittlich, nicht normal, und deswegen, so argumentiert der Roman, für den Vater, einen Mann aus bäuerlichen Verhältnissen, einen Emporkömmling, inakzeptabel. Er will nicht auffallen, schon gar nicht durch Makel, und macht – Mann seiner Zeit, Patriarch, Herr im Haus – den Körper seiner Ehefrau zu seinem Problem. Behandelt sie, als wäre sie sein Besitz. Jeden Morgen muss sie sich unter seiner Aufsicht wiegen, ist ständig seinem Tadel über ihren Körper ausgesetzt. Und als Frau ihrer Zeit und Verhältnisse lässt sie es sich gefallen. Zwar nicht für immer, um den Ausgang dieser Ehe zu spoilern, so wie Daniela Dröscher es bereits im ersten Drittel tut. Aber die leidvollen Jahre lang, von denen der Roman erzählt.
Immer wieder macht die Mutter Diäten – Kohlsuppe, FdH – ohne Erfolg. Irgendwann ertappt ihre Tochter sie bei einem nächtlichen Süßigkeiten-Fressgelage. Spätestens hier offenbart sich, dass sich die Tochter den kritischen Blick ihres Vaters zu eigen gemacht hat. Sie empfindet Verachtung für die vermeintliche Charakterschwäche ihrer Mutter. Ein Familienausflug ins Freibad wird zum Albtraum. In die Blicke der anderen Badegäste interpretiert die Tochter Häme, und als die Mutter schließlich ins Wasser springt, in Kleidern, um ihre vor lauter peinlichem Berührtsein extra lange tauchende Tochter zu retten, ist das Unglück komplett.
Dröscher verzichtet diskret darauf, die Körperfülle ihrer Mutter so zu beschreiben, dass man eine tatsächliche Vorstellung hat. In ihrem Buch „Zeige deine Klasse“ hat sie die Schauspielerin Marianne Sägebrecht zum Vergleich herangezogen. Doch ist es natürlich illegitim, das Memoir zum Verständnis des neuen Buches zu benutzen, das die Gattungsbezeichnung Roman deutlich sichtbar auf dem Cover trägt. Tut man es doch, stellt man schnell fest, dass es sich bei „Lügen über meine Mutter“ um eine Nachdichtung handelt. Vieles ist anders, Jahreszahlen stimmen nicht überein. Es sind eben Lügen, beziehungsweise ist es Literatur.
Formal ist der Roman so gestaltet, dass sich an jedes Kapitel, das in Ichform, sozusagen mit dem Wissen von damals, literarisch von den Achtzigerjahren erzählt, ein Einwurf anknüpft, in dem die Erzählerin heute zu uns spricht. Darin stellt sie der Mutter, die inzwischen in Norddeutschland lebt, auch Fragen, die sogar beantwortet werden. Das hat anfangs viel Charme, weil sich das große Ganze so aus zwei Perspektiven zusammenfügt, einer eher naiven, die wunderschön erzählen kann, und einer akademisch gebildeten, die die Geschehnisse von damals analysiert. Im Laufe des Romans erweist sich die Konstruktion aber als Krux, weil nicht jeder Einwurf wirklich Notwendiges beiträgt. Und manchmal klingt die erwachsene Erzählstimme selbst befremdend naiv: „Inzwischen weiß ich, dass bei der Gewichtszunahme viele Faktoren eine Rolle spielen.“ Oder pseudophilosophisch: „Schreien und Schreiben. Nur ein winziges ,b‘ liegt zwischen diesen beiden Wörtern.“ Oder nach jemandem, der beseelt aus dem Soziologie-Seminar kommt: „Ganz tief im ,self-made man‘ verborgen schlummert die Psychologie des soldatischen, ,gepanzerten‘ Mannes…“
Und doch bereichert die Reflexionsebene die Geschichte einer Kindheit in der Provinz auch rhythmisch. Die Erzählung bekommt etwas Musikalisches, eine Art zeitlichen Kontrapunkt. Inhaltlich ermöglicht die zweite Ebene der Erzählerin, ihre Ansichten zu revidieren.
An die Stelle der Scham tritt Bewunderung. In der mütterlichen Weigerung abzunehmen, erkennt die erwachsene Tochter auf einmal unbändigen Widerstandsgeist. Plötzlich erscheint ihr der umfangreiche Körper wie der Ausdruck einer innerehelichen Revolte. Ein einsamer Kampf für Selbstbestimmung in einer Zeit und einem Land – Westdeutschland – und einem Milieu, in dem Gleichberechtigung eine unheimliche Zukunftsvision war, von der Lebensrealität so weit weg wie die zickigen Biester mit Schulterpolstern aus der Serie „Dallas“, die donnerstags im Fernsehen lief.
Wer die Achtzigerjahre bewusst miterlebt hat, wird bei der Lektüre besonderes Vergnügen haben, weil sie Erinnerungen wachruft. An Höhensonne. Hühnerfrikassee. Die Bilder der verglühenden Challenger. Den Mythos Bermuda-Dreieck. Oder die Fruit Candies von Cavendish & Harvey in der runden Dose aus dem Duty-free, die so dick mit Puderzucker bestäubt waren, dass sich die farbgebende Obstsorte erst beim Lutschen erschloss.
Sprachliche Wendungen, die innerhalb der Familie benutzt wurden, also zum Herkunftsmilieu gehörten, sind kursiv gesetzt. So ist dem Text eine Sammlung bürgerlicher deutscher Wendungen eingeschrieben, wie sie wohl viele von ihren Eltern und Großeltern kennen und nicht selten versehentlich selbst an die nächste Generation weitergeben: der liebe Herr Vater; etwas ist sündhaft teuer; mit Essen spielt man nicht; sonst gibt es ein Donnerwetter
Der Roman handelt außerdem von Geld. Erst gab es kaum welches, dann durch eine Erbschaft sehr viel, das aber unerwartet schnell wieder ausgegeben ist. Zu den Lügen über die Mutter gehört auch, dass Daniela Dröscher nicht alles preisgibt, was es über ihre finanziellen Verhältnisse zu sagen gibt. Es gibt da bis zuletzt ein Geheimnis.
Sprachliche Wendungen zeigen
ein bestimmtes Milieu und eine
Zeit: „sündhaft teuer“ etwa
Daniela Dröscher:
Lügen über meine
Mutter. Roman.
Kiepenheuer & Witsch,
Köln 2022.
448 Seiten, 24 Euro.
Daniela Dröscher, geboren 1977, hat Theaterstücke, Romane und 2018 den großen Essay „Zeige deine Klasse“ geschrieben. Motive daraus kommen in ihrem neuen Roman wieder vor.
Foto: Carolin Saage
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.08.2022

Mein Vater, der Lügner
Daniela Dröscher erzählt vom Drama einer Ehe

Kann man seinem Vater verzeihen, wenn er die eigene Mutter zu dick findet und sie ständig missbilligend beäugt? Sie zu einer "FdH"-Diät, sprich "Friss die Hälfte", nahezu erpresst? Ihr Geld verweigert, als stünde das Familieneinkommen allein ihm zu? Vielleicht kann ein Kind seinem Vater so etwas später verzeihen, doch in diesem Buch erfährt man nicht, ob es möglich ist. In Daniela Dröschers Roman "Lügen über meine Mutter" geht es nur um diese Mutter, die in ihrer gesamten Ehe als zu dick galt und deren Gewicht - so absurd es klingt - der Grund für jegliches Versagen ihres Mannes sein sollte.

Dröscher ist wie ihre Protagonistin Ela 1977 in Rheinland-Pfalz geboren. Ob es eine autobiografische Grundlage fürs Buch gibt, bleibt offen, doch die Zwischenkapitel lassen es vermuten. Denn in vier aus der Sicht von Ela geschilderten Kindheitsjahren gibt es auch immer wieder Unterbrechungen einer allwissenden Ich-Erzählerin, die versucht zu erklären, wie es zwischen den Eltern so weit kommen konnte. Und aus Gesprächspassagen mit der Mutter schließt man erleichtert, dass es irgendwann zur Trennung kam.

Elas Kindheit ist geprägt von Streit zwischen Vater und Mutter. Die will ein Diplom in Französisch machen, um bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben - was er nur erlaubt, wenn sie abnimmt und den Kurs selbst zahlt. Später dann kommt sie ohnehin nicht mehr zum Lernen, weil sie mit dem zweiten Kind schwanger ist und sich um ihre an Alzheimer erkrankte Mutter kümmern muss. Der Vater macht derweil allein Skiurlaub. Die düstere Familienatmosphäre wird verstärkt durch das Dorf, in dem sie wohnen. Wegen des Mannes ist das Ehepaar nach Elas Geburt aus München zurück in dessen Heimat gezogen, in der die Mutter immer eine Fremde bleibt. Während er den Dialekt spricht und ein intaktes soziales Umfeld besitzt, bleibt sie meist einsam. Mit einer eifersüchtigen Schwiegermutter im Haus und dem Wunsch des Vaters, im Dorf zu protzen - am besten auch mit einer dünnen Frau -, beginnt der Untergang der Mutter.

Denn Sellerie-, Farb- und "FdH"-Diäten sowie der Gang zu den "Weightwatchern" helfen nichts, und der Ballon, den sich die Mutter trotz Risiken in den Magen einsetzen lässt, um den Hunger zu stoppen, kann auch nichts ausrichten. Wegen ihrer Figur darf sie nicht mit in den Badeurlaub, und die Dorfbewohner tuscheln, wenn sie die dicke fremde Frau sehen.

Dröscher zeigt mit ihrem Roman, wie ungerecht das Leben für Frauen noch vor dreißig Jahren war. Es macht wütend, von diesem Patriarchen zu lesen, dessen Miene, wie es heißt, das Klima in der Familie bestimmt. Der noch nie einen Teller abgewaschen, kein Hemd gebügelt und am Tag der Entbindung seiner Frau mit anderen Dorfbewohnern trinken war.

Ein glückliches Ende bietet dieser Roman nicht. Vielmehr eine Akkumulation der Misere einer Frau, die immer dicker wird und ohne jegliche Anerkennung für ihre Arbeit lebt. Ihr Leben ist eine Qual, wie für viele andere Frauen auch, die selbstlos Verzicht leisteten, und sie endet erst, als die Kinder aus dem Haus sind. Erst danach kann Ela die Äußerungen ihres Vaters über die Mutter als das erkennen, was sie waren: Lügen. Zu spät für eine Familie, von der man sich wünscht, sie wäre schon früher zerbrochen. ANNA FLÖRCHINGER

Daniela Dröscher: "Lügen über meine Mutter". Roman.

Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022. 448 S., geb., 24,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»ein kluger und packender Roman über subtile Gewalt in den eigenen vier Wänden« Woman, Österreich 20221219
»Dieses bedrückende Klima und den ständigen Psychoterror des Vaters beschreibt Sandra Voss als Sprecherin des Hörbuchs mal in eindringlicher, mal in leichtfüßig-lustiger Weise. Gekonnt wechselt sie auch von der kindlichen Erzählperspektive in die einer Erwachsenen.« Angela Kalenbach BÜCHERmagazin 20230201