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Ein Roman, der die amerikanische Identität neu definiert. Und der Brief eines Sohnes an die vietnamesische Mutter, die ihn nie lesen wird: Die Tochter eines amerikanischen Soldaten und eines vietnamesischen Bauernmädchens ist Analphabetin, kann kaum Englisch und arbeitet in einem Nagelstudio. Sie ist das Produkt eines vergessenen Krieges. Der Sohn, ein schmächtiger Außenseiter, erzählt - von der Krankheit der Großmutter, den geschundenen Händen der prügelnden Mutter und seiner tragischen ersten Liebe zu einem amerikanischen Jungen. Ocean Vuong schreibt mit traumhafter Klarheit von einem Leben, in dem Gewalt und Zartheit aufeinanderprallen.…mehr

Produktbeschreibung
Ein Roman, der die amerikanische Identität neu definiert. Und der Brief eines Sohnes an die vietnamesische Mutter, die ihn nie lesen wird: Die Tochter eines amerikanischen Soldaten und eines vietnamesischen Bauernmädchens ist Analphabetin, kann kaum Englisch und arbeitet in einem Nagelstudio. Sie ist das Produkt eines vergessenen Krieges. Der Sohn, ein schmächtiger Außenseiter, erzählt - von der Krankheit der Großmutter, den geschundenen Händen der prügelnden Mutter und seiner tragischen ersten Liebe zu einem amerikanischen Jungen. Ocean Vuong schreibt mit traumhafter Klarheit von einem Leben, in dem Gewalt und Zartheit aufeinanderprallen.
Autorenporträt
Ocean Vuong wurde 1988 in Saigon, Vietnam, geboren und zog im Alter von zwei Jahren nach Amerika, wo er heute lebt. Für seine Lyrik wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt unter anderem mit dem Whiting Award for Poetry (2016) und dem T.S. Eliot Prize (2017). Bei btb erschien zuletzt sein Erfolgsroman »Auf Erden sind wir kurz grandios«.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Als "Buch der Saison in Amerika" würdigt Rezensentin Miryam Schellbach diesen Debütroman des amerikanisch-vietnamesischen Lyrikers Ocean Vuong. In einem sie an Joan Didions klassische Autofiktion erinnernden Text folgt die Kritikerin in Szenen und Fragmenten dem jungen Little Dog, der seiner alleinerziehenden, bildungsfernen Mutter im Nagelstudio hilft, studiert und eine Beziehung mit dem opioidabhängigen Erntehelfer Trevor eingeht, laut Kritikerin das "Abbild eines weißen, rassistischen und hypermaskulinen Vorstadt-Amerikas". Schon die Feinfühligkeit, mit der Vuong das auf Unterwerfung beruhende Verhältnis der beiden jungen Männer schildert, ringt Schellbach große Anerkennung ab. Vor allem aber bewundert sie, wie eindringlich der Autor die Ausweglosigkeit aus Kategorien wie Klasse, Sexualität und Herkunft zeichnet.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.07.2019

Brief an eine Analphabetin

Ocean Vuongs Debütroman "Auf Erden sind wir kurz grandios" ist das Buch der Saison in Amerika.

Wenn es eine Great American Novel gäbe, müsste sie in unserer Zeit eine Einwanderungsgeschichte sein. Sie könnte so aussehen: Ein Student im ersten Semester sitzt in einem Seminar über italoamerikanische Literatur an einem City College in Brooklyn. Es ist eines dieser öffentlichen Colleges im Schatten der mächtigen amerikanischen Eliteuniversitäten, das mit niedrigen Studiengebühren und Notfallstipendien Aufstiegsgeschichten verspricht. Von außen betrachtet, sieht auch die Geschichte von "Little Dog" wie eine Aufstiegsgeschichte aus. In Saigon in eine Reispflanzerfamilie geboren, im Kindesalter aus Vietnam mit Eltern und Großmutter nach Hartford, Connecticut, geflüchtet. Kurz nach der Ankunft verschwindet der Vater und überlässt den Sohn den beiden kriegstraumatisierten Frauen. Little Dog, der seine Nachmittage in den Nagelsalons verbringt, in denen seine Mutter das Familieneinkommen erarbeitet, ist der Erste in der Familie, der lesen und Englisch sprechen lernt, der Erste, der einen akademischen Weg einschlägt, der Erste, der offen homosexuell lebt.

Und doch erzählt "Auf Erden sind wir kurz grandios", der zu Recht vom Hanser Verlag sehr schnell übersetzte Debütroman des für seine Lyrik bereits vielfach geehrten, dreißigjährigen Amerikaners Ocean Vuong, keinen Aufstieg, sondern eine Heimkehr. Little Dog, in ebenjenem Seminar zur Literaturgeschichte sitzend, erhält eine Facebook-Nachricht, die ihn über den Heroin-Tod des geliebten und kürzlich verlassenen Freundes Trevor informiert. Paralysiert steht er auf, greift seine Tasche und verlässt den Raum. Somit ist motivisch alles angelegt: eine Flucht- und Kriegserinnerung, Fremdsein in einer der sogenannten abgehängten Industrieregionen der amerikanischen Ostküste, eine scheiternde homosexuelle Liebe, ein intergenerationeller Bildungsunterschied, der krasser nicht ausfallen kann.

"Ma, ich schreibe, um Dich zu erreichen - auch wenn jedes Wort auf dem Papier ein Wort weiter weg ist von dort, wo du bist", so beginnt dieser Briefroman, geschrieben an die Mutter, die, weil sie Analphabetin ist, diese Zeilen niemals wird lesen können. In nichtlinear angeordneten Szenen, Fragmenten und Dialogen setzt Little Dog sein Leben als ein Mosaik aus Erinnerungen zusammen. Diese Erinnerungen sind nicht hierarchisch und nicht durch einen roten Faden verbunden, sie dienen nicht der Erfindung einer stringenten identitätspolitischen Erzählung, sondern schaffen selbst Identität, wunderbar präzise und mit Sätzen, die den Bogen ins Lyrische spannen, so weit, wie, und weiter, als Prosa nur gehen kann. Hier spricht jemand, der außerhalb der Sprache steht und sich mit anspruchsvoller Inbrunst in ihr Inneres wühlt; jemand also, der erst spät so sprechen lernte oder Lyriker ist. Oder beides. Little Dogs Brief ist eine fragmentierte Erzählung des eigenen Selbst. Damit steht Ocean Vuong in einer Tradition zwischen Joan Didions klassischer Autofiktion und der Erinnerungslyrik einer jüngeren Generation vietnamesisch-amerikanischer Autorinnen wie Hoa Nguyen oder Diana Khoi Nguyen.

Da ist die geliebte Mutter, selbst Tochter eines unbekannten amerikanischen Soldaten und einer vietnamesischen Farmerin, die ihrem Sohn, Little Dog, diesen seltsamen Namen gab. In der Region, in der sie aufwuchs, wurden Kinder nach Unwertem benannt, um sie zu schützen: "Etwas zu lieben heißt, ihm einen derart schäbigen Namen zu geben, dass es vielleicht unberührt bleibt - und am Leben." Little Dog liebt diese Frau mit der allumfassenden Art, wie es Kinder tun, die nur einen Elternteil, und dazu einen verletzlichen, haben und denken, diesen vor der Welt beschützen zu müssen. Selbst als sie ihn immer wieder schlägt, anfallartig und wortlos, weiß er das vor sich selbst mit ihrem Kriegstrauma zu entschuldigen. Nachdem er beobachtet, wie seine Mutter im Supermarkt beim Versuch, sich auszudrücken, ausgelacht wird, übernimmt er auch das Sprechen: "Von da an füllte ich unsere Lücken, unser Schweigen, Stottern, wann immer ich konnte. Ich wechselte fließend zwischen den Sprachen. Ich zog unsere Sprache aus und trug mein Englisch wie eine Maske."

Und da ist, weil man es eben auch mit einem Coming-of-Age-Roman zu tun hat, eine Liebe, die sich durch drei trockene Ostküsten-Sommer zieht. Trevor, der Enkel des Tabakplantagen-Besitzers, bei dem Little Dog zur Ernte aushilft, ist ein schöner Junge mit raspelkurzen Haaren und einem John-Deere-Cap, das er selten ablegt. Er ist abhängig von Opioiden, seit er fünfzehnjährig nach einem Fahrradunfall, allzu leichtfertig und in einer typischen amerikanischen Verschreibungsroutine zu jener Zeit, Oxycontin, ein stark abhängig machendes Schmerzmittel, verordnet bekam. Bekannt als "Hillbilly Heroin", das vornehmlich die weiße, unterprivilegierte Landbevölkerung an die Nadel brachte, ist es, oft als Streckmittel in Heroin, für die meisten amerikanischen Drogentode verantwortlich. Little Dogs Liebe zu Trevor ist eine kontinuierliche Selbstverletzung. Der Geliebte verkörpert, worunter er lange Jahre in der Schule gelitten hat. Trevor ist, und will es doch nicht sein, das Abbild eines weißen, rassistischen und hypermaskulinen Vorstadt-Amerikas mit seinen Pick-ups, mit seinen schlagenden und trinkenden oder verschwundenen Vätern, dem Junk-Food und sinnlosen, nachmittäglichen Schießtrainings. Es ist bedingungslose Unterwerfung, die Little Dog anbietet und die Trevor, ohnehin selten nüchtern, bereitwillig annimmt. Und doch wird diese Liebe, die die beiden erleben, heimlich, in den Tabakfeldern, auf den Heuböden, im Trailer, Little Dog für immer verändern, sie wird in der Erinnerung sein "kurzer grandioser" Moment auf Erden bleiben.

Eine Lebensgeschichte, wie sie in diesem Roman auf so feinsinnige Weise präsentiert wird, ist ein Gefüge aus Interdependenzen. Little Dog liebt als ein aus Vietnam Geflüchteter, und er liebt mit dem schlechten Gewissen eines Klassenaufsteigers, der Türen hinter sich schließen muss, um andere zu öffnen. Er spricht und schreibt keinen Satz, ohne sich beständig an jene zu erinnern, die ihn nicht verstehen können. Die Erzählung dieses Lebens steckt in kleinen Momenten und Erinnerungssplittern, die das Leid und den Ekel, den Little Dog empfindet, nur andeuten. Etwa in den von Chemikalien verhärteten Händen und Gesichtern der vietnamesischen Arbeiterinnen in den Nagelsalons, genauso wie in den von den krebserzeugenden Düngemitteln zerstörten Körpern der Tabakarbeiter. Diese Spuren sind "zugleich Wrack und Vergeltung eines Traums". Hier kristallisiert sich heraus, was es heißt, wenn Klasse, Herkunft, Sexualität, auch Jugend und Alter, Stadt und Provinz, aufeinander wirken. Dass es kein Entkommen aus diesen Kategorien gibt, keine Insel der Normalität, ist eine schmerzhafte, aber lehrreiche Erkenntnis. Wenn es tatsächlich eine Great American Novel gäbe, so wäre genau dieses ihre Botschaft und Ocean Vuong einer ihrer Autoren.

MIRYAM SCHELLBACH

Ocean Vuong: "Auf Erden sind wir kurz grandios".

Roman.

Aus dem Englischen von Ann-Kristin Mittag. Hanser Verlag, München 2019.

240 Seiten, geb., 22,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.07.2019

Feuerfest und selbstbestimmt
Von der Schönheit in den Verhältnissen, die man nicht ändern kann: Ocean Vuong entwickelt mit
seinem Debüt „Auf Erden sind wir kurz grandios“ eine neue Form politisch engagierter Literatur
VON INSA WILKE
Ausnahmsweise mal ein Anfang auf Englisch: „An American soldier fucked a Vietnamese farmgirl. Thus my mother exists / Thus I exist. Thus no bombs = no family = no me.“ So fasst der 1988 in Saigon geborene New Yorker Dichter Ocean Vuong seine Familiengeschichte zusammen, in dem Langgedicht „Notebook Fragments“. Es steht in seinem dritten Gedichtband „Night Sky with Exit Wounds“ (2016), der in den USA mehrfach ausgezeichnet und bislang in für neue Lyrik sagenhafte zehn Länder verkauft wurde. Auch in deutscher Sprache erscheint er bald, mit Versen wie diesen: „I didn’t know the cost / of entering a song – was to lose / your way back. // So I entered. So I lost. / I lost it all with my eyes // wide open.“
Selbst wenn man des Englischen nicht so mächtig ist, dass man Gedichte tief ergründen könnte, spürt man die Kraft solcher Zeilen, ihren Rhythmus und ihre Souveränität, ihr Bewusstsein für mythische Sprechweisen, für Traditionen. Und man spürt die Energie ihres Neuanfangs. Hier spricht einer, der etwas erkannt, angenommen, überwunden hat: „Here. That’s all I wanted to be“ – „Hier. Das ist alles, was ich sein will“.
Den Weg zu diesem „Hier“, das eben nicht selbstverständlich ist, beschreibt Vuongs erster Roman, der gerade in den USA und fast gleichzeitig in fünfzehn weiteren Ländern erschienen ist und dessen Titel auch schon über einem Gedicht aus „Night Sky with Exit Wounds“ steht: „Auf Erden sind wir kurz grandios“. Der Roman führt Motive und auch Formmerkmale der Gedichte zusammen. An die eben zitierte Zeile schließt er so an: „Sein oder nicht sein. Das ist hier die Frage. Eine Frage, stimmt, aber keine Wahl.“
Eigentlich ist es eine alte Geschichte, die Ocean Vuong aufschreibt. Sie handelt davon, wie der Krieg die Körper verhärtet und die Seelen verstört, davon, was es heißt, fremd in der Fremde zu sein, bis jemand eine Zuflucht bietet. Und sie handelt von symbolischen Orten wie dem Nagelstudio, das „letztlich ein Ort ist, wo Träume zu dem Wissen verkalken, was es bedeutet, in amerikanischen Leibern – mit oder ohne Staatsbürgerschaft – wach zu sein: schmerzhaft, toxisch, unterbezahlt“. Vuong bewegt sich erzählend auf dem Grat zwischen Erfindung und den Markern seines eigenen Lebens, dem des Kriegsgeborenen. Die eingangs zitierten Verse benennen ja deutlich, dass Ocean Vuong buchstäblich ein Produkt des Krieges ist. Ohne den Krieg in Vietnam würde er nicht existieren. Was bedeutet das für ein Leben? – Erst mal Gewalt.
„Das erste Mal, als du mich geschlagen hast, muss ich vier gewesen sein. Eine Hand, ein Wimpernschlag. Eine Strafe. Mein Mund ein Aufflammen von Berührung.“ Diese Sätze imitieren den Takt der Schläge, um ihn durch die weichen Konsonanten am Schluss in etwas wie ein Wohlgefühl übergehen zu lassen. An solchen subtilen sprachlichen Mitteln erkennt man den Lyriker, dessen Ton die Übersetzung von Anne-Kristin Mittag bis auf wenige Stellen, an denen sie es mit dem hohen Ton übertreibt, so eingefangen hat, dass er einen auch im Deutschen unmittelbar erreicht. Die Angesprochene ist die Mutter des Erzählers, der „Little Dog“ genannt wird. Der Roman ist ein Brief an diese Frau, die mit ihrem zweijährigen Sohn und dessen Großmutter 1990 – wie Vuong selbst – in die USA eingewandert ist.
Vuongs Text wird rhythmisiert durch den Wechsel von Szenen der Gewalt, deren Gipfel die allegorisch zu lesende Vivisektion eines Makaken ist, und Gesten der Fürsorge. Im ersten der drei Teile des Romans nähert sich Vuong der Mutter an, indem er sich durch seine literarische, englische Sprache von ihr distanziert. Die Mutter ist Analphabetin. Die Distanz ermöglicht es ihm, sie besser zu sehen. Die Distanz ist eigentlich eine Form der Zuwendung, weil sie es dem Erzähler ermöglicht, die andere Distanz zu seiner Mutter zu überwinden, die mit der Frage zusammenhängt, warum sie ihn lehrte, Gewalt als Zuwendung zu verstehen: „Vielleicht bedeutet Hand an dein Kind zu legen, es auf den Krieg vorzubereiten.“ In Alltagsszenen, die mal in der Shopping-Mall, mal vor der Fleischtheke spielen, setzt Vuong das Bild des Traumas zusammen, das auch sein Leben erreicht. Szenen, die sich in die Imagination brennen, weil nicht Erzähllust, sondern Erkenntnisdrang sie diktiert hat.
„Etwas zu lieben“ habe in Vietnam geheißen, „ihm einen derart schäbigen Namen zu geben, dass es vielleicht unberührt bleibt – und am Leben“. Deswegen der Name „Little Dog“. Hinter der Gewalt steht ein Gesetz, dem Großmutter und Mutter sich unterwerfen. Es lautet: Das Leben ist das höchste Gut. Vuong stellt dieses Gesetz infrage, um eine Wahl zu haben, um „hier“ sein zu können. Das unterscheidet dieses Buch von einer klischeehaften Migrationsgeschichte. Das macht es zu einem performativen Akt der Selbstermächtigung.
Dieser Akt kann nur gelingen, weil Ocean Vuong – wie die jüngst deswegen aufgefallenen Autorinnen Maggie Nelson und Claudia Rankine und in der deutschsprachigen Literatur Senthuran Varatharajah – eine Form wählt, die zwischen Prosa, Essay, Gedicht changiert. Eine Form, die weniger auf Perfektion der Bilder, den langen Atem der Erzählung und immer vollends überzeugende Stimmigkeit der Gedanken setzt als auf Inspiration, auf den Drang, etwas entstehen lassen zu wollen und dafür sprachlich Offenheit schaffen zu müssen. Das wird besonders im zweiten und dritten Teil des Romans deutlich, in dem Little Dog seiner Mutter von der Liebe zu Trevor erzählt, den er beim Jobben auf einer Tabakplantage kennenlernt. Trevor ist weiß, aber nur wenig privilegierter als Little Dog. Er wird in der sogenannten Opioid-Krise an der Sucht nach dem Medikament Oxycontin sterben.
In der jetzigen Zeit, in der spießige Triggerwarnungen in den USA Leserinnen vor den Zumutungen der Literatur – und Realität – meinen schützen zu müssen, sind allein die expliziten Liebesszenen zwischen den beiden Jungen eine Ansage, ohne dass Vuong diese stille, intensive Liebesgeschichte für eine Botschaft verrät. Die Gewalt, die Little Dog durch seine Mutter als Zuwendung zu verstehen gelernt hat, setzt sich im Sex fort und bekommt doch eine andere Qualität: „Wie nennt man das Tier, das auf den Jäger trifft und von sich aus anerbietet, gefressen zu werden. Einen Märtyrer? Einen Schwächling? Nein: ein Tier mit dem seltenen Vermögen, stehen zu bleiben. Ja, der Schlusspunkt in einem Satz – das ist es, was uns menschlich macht, Ma. Ich schwöre es. Er lässt uns anhalten, damit wir weitermachen können.“
Mit diesem hybriden Roman-Text orchestriert Vuong Fragmente einer Sprache der Liebe und der Trauer. Trauer um Trevor, um die Mutter und die Großmutter. Trauer um Little Dog und wohl auch um Ocean Vuong. Er bezieht sich direkt auf Roland Barthes, aber in einem deutlichen Widerspruch, den er mit großer Evidenz aus seinen Lebenserfahrungen ableitet. Wenn es um die „Muttersprache“ geht, die bei Barthes für den Schriftsteller in einer „ständigen Beziehung zur Lust“ gesehen wird, antwortet Vuong: „Unser Vietnamesisch ist eine Zeitkapsel, die den Punkt markiert, an dem deine Bildung endete, zu Asche zerfiel. Ma, unsere Muttersprache zu sprechen heißt, nur teilweise auf Vietnamesisch zu sprechen, aber ganz auf Krieg.“
Was folgt aus diesen Bedingungen? Ein Leben, von vornherein in seinen Möglichkeiten gestutzt durch das Trauma der Familie und eine strukturell gewalttätige Gesellschaft in den USA. Es ist eine neue Form der politisch engagierten Literatur, die Ocean Vuong aus dieser Situation gewinnt. Sie glaubt nicht mehr an die Veränderbarkeit der Verhältnisse und entwickelt genau daraus Handlungsfreiheit und Widerstandskraft.
An einer Stelle erinnert Little Dog sich an ein Kinderbuch, das er im Förderunterricht kennengelernt und geliebt hat. In diesem Buch backt eine Großmutter mit ihrer Enkelin einen Kuchen, während ein Unwetter aufzieht: „Einen Kuchen backen im Auge des Sturms. Sich mit Zucker nähren am Abgrund der Gefahr.“ Dem entgegen steht ein Bild, das Vuong für die transgenerationelle Prägung von Kriegsflüchtlingen gefunden hat: Monarchfalter, die jeden Winter nach Süden aufbrechen und deren Nachkommen die Erinnerung an die Gefahr des Winters in die Gene programmiert wurde, um ihr Überleben zu sichern.
Vuong aber richtet sein Augenmerk auf die wenigen Exemplare, die sich aus der Geschichte ihrer Gattung „streichen“. Little Dog streicht seine Mutter und Großmutter aus der Geschichte des Krieges, er streicht Trevor aus seinem sozial vorgeschriebenen Weg. Und er streicht sich aus der Erbfolge der Erinnerung. Von Trevor lernt er, „gut zu nennen“, was nach Scheitern klingt, nach Demütigung und Ohnmacht. Ist das resignativ? Von seiner Großmutter, die eine erstaunliche eigene Emanzipationsgeschichte hat, lernt er, dass man nicht für das Überleben, sondern für Schönheit sein Leben riskiert: „Diese ganze Zeit über habe ich mir gesagt, dass wir aus dem Krieg geboren wurden – aber ich habe mich geirrt, Ma. Wir wurden aus Schönheit geboren. Niemand soll glauben, wir seien die Frucht der Gewalt – sondern dass Gewalt, die durch die Frucht hindurch gegangen ist, sie nicht verderben konnte.“ Ist diese Umwertung unpolitisch? Nein, diese sprachlichen Gesten sind kurze Momente des Widerstands. Plötzlich ist da eine Wahl: „Wenn wir Glück haben, ist das Ende eines Satzes der Punkt, an dem wir vielleicht anfangen können.“
Im letzten Teil des Romans fällt Vuong einige Male in den Ton des politischen Pamphlets. Etwa, wenn er von der „Nation unter Drogen, unter Drohnen“ spricht. Solche Formulierungen haben etwas von jugendlichem Muskelspiel, und es ist ja auch ein Debütroman eines jungen Autors. Der Wunsch, eine „Sprache für das Herausfallen aus der Sprache“ zu finden und in eine der Erneuerung zu verwandeln zählt mehr, wie auch der innige, souveräne Ton, mit dem Vuong den Erzähler zur Mutter sprechen lässt. „Ich glaube, ich war am Ertrinken“, antwortet Little Dog auf Trevors Frage, was er vor ihrer Liebe war. Und als Trevor fragt, was er jetzt sei, antwortet Little Dog: „Wasser“ – Ocean, feuerfest und selbstbestimmt. Diese Bewegung vom Ertrinken zum Wasserwerden stellt „Auf Erden sind wir kurz grandios“ in eine Reihe mit dauerhaft grandiosen Texten der Befreiungsliteratur.
Wie der Krieg die Körper
verhärtet, und was es heißt, fremd
in der Fremde zu sein
„Einen Kuchen backen im Auge
des Sturms. Sich mit Zucker
nähren am Abgrund der Gefahr.“
Ocean Vuong: Auf Erden sind wir kurz grandios. Aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag. Carl Hanser Verlag, München 2019. 240 Seiten, 22 Euro.
Ocean Vuong wurde 1988 in Ho-Chi-Minh-Stadt geboren, 1990 kam er über ein philippinisches Flüchtlingslager nach Connecticut.
Foto: Celeste Sloman / The New York Times
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"Der Debütroman von Ocean Vuong ist ein literarisches Ereignis dieses Jahres." Khue Pham, Zeit Online, 01.10.19

"Vuongs Debütroman erzählt die ewige Geschichte von Krieg, Flucht und Fremde. Sie wirkt bis in die Sprache." ZDF Aspekte, 20.09.19

"Höchst intuitiv und dadurch überaus schön... Ocean Vuong ist es gelungen seine Erinnerungen zu erzählen, ohne in ihnen unterzugehen." Katharina Borchardt, SWR2 lesenwert, 23.08.19

"Ein langer, poetisch-zärtlicher Brief an diese Mutter, eine liebevolle und gleichzeitig therapeutische Abrechnung mit ihr und einem Umfeld, das viele Wunden schlug." Eva Karnofsky, WDR5 Bücher, 15.08.19

"Grandios mitfühl- und fassbar ... sprachlich prächtige wie überraschende Bilder." Sylvia Staude, Frankfurter Rundschau, 13.08.19

"Ein eindrucksvolles Buch, geschrieben in einer poetischen Sprache. Ein Buch der Selbstvergewisserung durch das Scheriben über die eigene Geschichte. Einer Geschichte, die durch einen Krieg geprägt ist, der noch Generationen später das Leben der Menschen bestimmt." Fokke Joel, taz. 11.08.19

"Vuongs inniger, aphoristischer Ton und die zwischen Prosa, Essay und Gedicht changierende Form seines Romans hat in diesem heißen Juli bestimmt niemanden kalt gelassen." Süddeutsche Zeitung, 30.07.19

"Ein Buch, so schmerzgeladen und fragil, fremd und schön - man kann seine aus Fetzen gefügte Botschaft als einen der verstörendsten und wundersamsten Liebesbriefe lesen, die sich einem in jüngerer Zeit zwischen Buchdeckeln offenbarten." Angela Schader, Neue Zürcher Zeitung, 26.07.19

"Hier kristallisiert sich heraus, was es heißt, wenn Klasse, Herkunft, Sexualität, auch Jugend und Alter, Stadt und Provinz, aufeinander wirken. Dass es kein Entkommen aus diesen Kategorien gibt, keine Insel der Normalität, ist eine schmerzhafte, aber lehrreiche Erkenntnis. Wenn es tatsächlich eine Great American Novel gäbe, so wäre genau diese ihre Botschaft und Ocean Vuong einer ihrer Autoren." Miryam Schellbach, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.07.19

"'Little Dogs' Erinnerungen dienen nicht der Erfindung einer stringenten identitäspolitischen Erzählung, sondern schaffen selbst Identität, wunderbar präzise und mit Sätzen, die den Bogen ins Lyrische spannen, so weit, wie, und weiter, als Prosa nur gehen kann. Hier spricht jemand, der außerhalb der Sprache steht und sich mit anspruchsvoller Inbrunst in ihr Inneres wühlt;" Miryam Schellbach, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.07.19

"Von der Schönheit in den Verhältnissen, die man nicht ändern kann: Ocean Vuong entwickelt mit seinem Debüt eine neue Form politisch engagierter Literatur. ... Er wählt eine Form, die zwischen Prosa, Essay, Gedicht changiert. Eine Form, die weniger auf Perfektion der Bilder, den langen Atem der Erzählung und immer vollends überzeugende Stimmigkeit der Gedanken setzt als auf Inspiration, auf den Drang etwas entstehen lassen zu wollen und dafür sprachlich Offenheit schaffen zu müssen." Insa Wilke, Süddeutsche Zeitung, 22.07.19

"Hier kommt einer, der die Wunden der Menschheit in einem solch elektrisierend mutigen Verfahren erkundet, dass es weh tut. Es ist ein Text, der sich windet und häutet, die Genregrenzen außer Kraft setzt - und gleichzeitig erzählt er eine einfache Geschichte." Lisa Kreißler, NDR Kultur, 21.07.19

"Weil Vuong immer wieder beschreibt, wie er mit seiner eigenen Identität ringt und wie er trotz all der Fremdzuschreibungen und Rollenzuweisungen zum Autor seiner eigenen Biographie wird, ist sein Buch viel mehr als nur ein interessanter Einblick in die Welt einer ethnischen Randgruppe." Harald Staun, Süddeutsche Zeitung, 21.07.19

"Vor allem durch die schlaglichtartige Evokation von Augenblicken ist es das Werk eines Dichters, nicht das eines Epikers. ... Vuong setzt auf das unheimliche Aufleuchten einzelner Momente, die ihre Spannung daraus beziehen, dass sie sich gegenseitig erhellen." Georg Dotzauer, Tagesspiegel, 20.07.19

"Die ungewöhnliche Geschichte einer Selbstsuche ... Ocean Vuong gelingt etwas Besonderes: die Verbindung eines Coming-out-und-Coming-of-Age-Romans mit einer literarischen Form, die unterschiedliche Blickwinkel heraussstellt." Mara Delius, Die Welt, 20.07.19

"Sein erster Roman, eine Migrationsgeschichte in radikal verdichteter Sprache, wild durch die Zeiten springend. Coming of Age und Coming Out, das Wunder der ersten Liebe, mitten in den Waste Lands der US-amerikanischen Opioidkrise. Und auf wirklich jeder Seite so genaue Bilder." Alex Rühle, Süddeutsche Zeitung, 19.07.19

"Der junge US-Autor erzählt in seinem eindrücklichen Roman von seinen vielen zerrissenen Leben als Einwanderer, als Homosexueller und als Sohn einer vietnamesischen Analphabetin. ... Was man von ihm lesen kann, klingt bereits jetzt schon außergewöhnlich." David Hugendick, Die Zeit, 18.07.19
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